Immer mehr Süchtige: «Die Mitarbeitenden sind an ihrer Grenze», sagt der Chef der Aargauer Suchthilfe

Hans Jürg Neuenschwander ist Geschäftsführer der Aargauer Suchthilfe. Im Interview nimmt er Stellung zur offenen Drogenszene in Brugg und dem gefährlichen neuen Konsumtrend unter Jugendlichen. Und er verrät, was er von der Cannabis-Legalisierung in Deutschland hält.

6. Mai 2024

Hans Jürg Neuenschwander empfängt uns zum Interview in der Mediothek der Suchtprävention Aargau in Aarau. Hier ist der langjährige Geschäftsführer der Stiftung umgeben von Tausenden Büchern, Lehrmitteln und Ratgebern, die sich alle mit komplexen Themen wie Sucht, Gesundheit, Prävention oder Erziehung beschäftigen. Der Verleih dieser Werke an Privatpersonen und Schulen ist Teil der Präventionsarbeit, welche die Suchthilfe im Auftrag des Kantons leistet.

Vor kurzem hat die Organisation den neuen Jahresbericht veröffentlicht. Ein Punkt springt besonders ins Auge: Während die Zahl der Klientinnen und Klienten bei der Suchtberatung in den letzten Jahren durchwegs stabil blieb, stieg sie 2023 um über 300 auf insgesamt 2616 Klienten an.

Herr Neuenschwander, wie ist diese sprunghafte Zunahme von
15 Prozent bei den Beratungszahlen gegenüber dem Vorjahr zu erklären?

Hans Jürg Neuenschwander: Die Gründe dafür sind vielschichtig. 2019 bis 2021 haben wir im Auftrag des Kantons an einer Studie mitgewirkt zu den Fragen: Wie niederschwellig sind wir? Und wo können wir noch zugänglicher werden? Seit 2021 setzen wir die Massnahmen aus diesem Bericht um und haben zum Beispiel das Anmeldeverfahren vereinfacht. Mit der Spitex Lenzburg haben wird zudem ein Pilotprojekt gestartet, bei dem wir zum Teil auch aufsuchende Beratungsarbeit leisten.

Die Zunahme ist aber nicht allein mit diesen Massnahmen zu begründen.

Nein, natürlich hat sich auch die Welt in den letzten vier Jahren stark verändert. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass sich die psychische Gesundheit allgemein und im Besonderen bei jungen Menschen verschlechtert hat. Zudem hat die Kombination aus Pandemie, Klimakrise, Kriegen und der Tatsache, dass alles teurer wird, dazu geführt, dass instabile Personen und Familiensysteme noch instabiler geworden sind. Dies hat seit Anfang 2022 zu einer massiven Zunahme bei der Nachfrage nach den Präventionsangeboten geführt. Im Oktober mussten wir wegen der erhöhten Nachfrage bei der Suchtberatung die Pensen erhöhen.

Im Jahresbericht schreiben Sie, dass die Belastung bei Ihren Mitarbeitenden sehr hoch war und dass man mit dem Leistungsvermögen an die Grenzen stiess. Was heisst das konkret?

Wir haben mit diversen Massnahmen versucht, unser Angebot so weit und so gut wie möglich aufrechtzuerhalten. Teilweise gelang das auch mit Pensumerhöhungen. Mit der deutlichen Zunahme der Klienten hat sich der Arbeitsalltag unserer Beratungspersonen aber verändert. Wir mussten Prioritäten setzen und haben zugunsten unserer Kernaufgabe auf andere Dinge verzichten müssen.

Auf welche?

Es gab weniger Fortbildungen, weniger Entwicklung, weniger Innovation. Wir mussten einfach versuchen, den Alltag so handzuhaben, dass wir irgendwie durchkommen. Aber bei allem, was wichtig wäre, um sich als Organisation langfristig positiv zu entwickeln, gab es Verzichtsplanungen. Wir merken, dass die Mitarbeitenden an ihren Grenze sind. Bei der Suchtberatung gab es im ersten Quartal 2024 eine leichte Entspannung, weil die Nachfrage ein wenig gesunken ist. Ob das so weitergeht, bleibt abzuwarten.

Zur Person

Hans Jürg Neuenschwander, 57, ist seit 2001 Geschäftsführer der Suchthilfe Aargau. Zuvor war er sechs Jahre lang Schulleiter der Primar-, Real- und Sekundarschule in Baden. Neuenschwander hat unter anderem an der Wirtschaftsuniversität Wien studiert, wo er mit einem Master in Sozialmanagement abgeschlossen hat. Neben seiner Arbeit für die Suchthilfe im Kanton Aargau ist er Präsident der Schuldenberatung Aargau-Solothurn und operativer Leiter des Forums Suchtmedizin Nordwestschweiz. Politisch ist Neuenschwander ebenfalls aktiv: Seit 2020 ist er in seinem Wohnort Zetzwil im Gemeinderat (parteilos). Dort lebt der Vater von drei Kindern zusammen mit seiner Partnerin.

Sie sprachen letztes Jahr davon, dass es an einem Standort der Suchtberatung sogar einen Aufnahmestopp gab. Mussten also neue Klientinnen oder Klienten abgewiesen werden?

Der Aufnahmestopp war zum Glück nur kurzfristig, etwa vier Wochen, bis wir erneut Stellenprozente aufstocken konnten. Wir konnten aber an anderen Standorten Beratungsangebote machen, oder die Klientinnen und Klienten mussten vier bis fünf Wochen auf einen Termin warten. Unser Ziel ist es, dass wir innerhalb von zwei Wochen einen Gesprächstermin anbieten können. Das ist derzeit nicht immer möglich.

Vergangenen Herbst sorgte die offene Drogenszene am Bahnhof Brugg und die Crack-Welle für Schlagzeilen. Ist das auch ein Grund für die Zunahme bei Ihren Fallzahlen?

Als ambulante Suchtberatungsstelle sind wir davon nicht wesentlich betroffen. Wir haben relativ wenige Personen mit Crack-Konsum bei uns in der Beratung. Solche Personen brauchen eher andere und insbesondere schadensmindernde Angebote. Die Zunahme unserer Fallzahlen hängt nicht mit der öffentlichen Situation in Brugg zusammen.

Die offene Drogenszene sei nicht für die gestiegenen Fallzahlen bei der Suchtberatung verantwortlich, sagt Hans Jürg Neuenschwander. Bild: Alex Spichale

Im Aargau gibt es derzeit keinen geschützten Konsumraum für Crack-Süchtige. Würde ein solcher helfen, die offene Drogenszene einzudämmen?

Aus unserer Sicht braucht es ein solches Angebot. Das bringt aber auch wieder gewisse Herausforderungen mit sich. Die Räume für Crack-Süchtige müssen andere Dimensionen haben als zum Beispiel beim Heroin früher, da diese Personen aggressiver auftreten können. Es braucht aber auch technische Installationen, um den giftigen Crack-Rauch abzusaugen und so die Mitarbeitenden zu schützen. Das macht den Betrieb solcher Räume teurer.

Im Winter ist es um die offene Szene in Brugg still geworden. Jetzt wird es aber langsam wieder wärmer. Wird sich die Situation dieses Jahr wiederholen oder gar verschlimmern?

Ich kann nicht sagen, wie sich die Situation 2024 entwickeln wird. Aber klar, die Leute sind ja nach wie vor hier. Und weil im Kanton Solothurn aus Kapazitätsgründen keine Aargauer mit einer Abhängigkeitserkrankung mehr aufgenommen werden können, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass sie sich hier wieder ihren Platz suchen. Ob das wieder in Brugg oder einer anderen Stadt sein wird, wird sich zeigen. Das kommt auch darauf an, wo und wie die gefragten Substanzen erhältlich sein werden.

Eine andere Entwicklung gab letztes Jahr ebenfalls zu reden. Weil die Fallzahlen derart angestiegen sind, ging der Suchthilfe das Geld, das für das ganze Jahr reichen sollte, schon im Oktober aus. Der Kanton stockte seinen Beitrag für die Suchtberatung schliesslich um 300’000 auf insgesamt 3,8 Millionen Franken auf. Wie sieht die finanzielle Situation im laufenden Jahr aus?

Diese Finanzlücke von 300’000 Franken bestand seit 2018 und konnte auf 2022 glücklicherweise geschlossen werden. Für 2024 haben wir ein sechsstelliges Defizit budgetiert. Das werden wir aus unserem Organisationskapital tragen.

Und wie geht es 2025 weiter?

Darüber hinaus kann ich nur sagen, dass wir mit der Politik und der Verwaltung im Gespräch sind. Wir sind zuversichtlich, dass wir hinsichtlich Finanzierung unserer Dienstleistungen ab 2025 gute Lösungen finden werden.

Sie haben eben erwähnt, dass es auch im Bereich der Suchtprävention eine Zunahme an Aufträgen gab. Im Jahresbericht schreiben Sie, dass vor allem der sogenannte Mischkonsum bei Jugendlichen in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt sei. Was ist damit gemeint?

Mischkonsum bedeutet, dass mehrere Substanzen zur gleichen Zeit konsumiert werden. Das liegt also schon vor, wenn Alkohol und Tabak oder Alkohol und Cannabis zusammen konsumiert werden. Die Problematik liegt insbesondere bei den schwereren Fällen, wo Drogen, Medikamente und Alkohol kombiniert werden.

Im Bericht heisst es, dass seit 2018 wegen des Mischkonsums von mehreren Medikamenten (u. a. Hustensaft) oder Medikamenten mit Alkohol und Cannabis schweizweit schon mindestens 35 Jugendliche verstorben seien.

Gerade wenn Medikamente mit anderen Substanzen kombiniert werden, kann das eine Verzögerung von gewissen Effekten geben, und man spürt nicht mehr, was das mit einem macht. Wenn dann alle Wirkungen zusammen eintreten, kann das bis zum Tod führen.

Wie gelangen die Jugendlichen an die Medikamente?

Wenn man in der Schweiz etwas will, bekommt man es relativ rasch und unproblematisch. Über das Internet ist das nicht sehr schwierig, es gibt genug Leute, die so etwas verkaufen wollen. Die grosse Herausforderung für uns ist jetzt, wie wir die Jugendlichen erreichen, die einen solchen risikoreichen Mischkonsum betreiben.

Gelingt Ihnen das?

Wir versuchen da präsent zu sein, wo wir können. Eine der grössten Risikogruppen sind die 18- bis 25-Jährigen. Die Frage ist, wie wir sie erreichen können, da sie nicht mehr in der Schule oder in der Lehre sind. Eine Möglichkeit ist die Präsenz in den sozialen Medien oder über die Podcasts, die wir veröffentlichen. Ich denke aber, dass wir als Organisation oder als Kanton zu klein dafür sind. Der Mischkonsum ist schliesslich schweizweit ein Thema. Es bräuchte hier zum Beispiel eine Kampagne vom Bundesamt für Gesundheit. Man erreicht nicht die gewünschte Wirkung, wenn jeder das Thema alleine angeht.

Wie viele Personen sind bei der Suchthilfe in Beratung, bei denen der Mischkonsum und speziell der gefährliche mit Medikamenten im Vordergrund steht?

Wegen Medikamenten alleine haben wir sehr wenige Personen in Beratung. Es ist ein zweischneidiges Schwert: Einerseits sind Medikamente an sich ja etwas Gutes. Erst in Kombination mit etwas anderem kann es gefährlich werden. Zum Mischkonsum kann ich keine Zahl nennen, da wir in unserer Statistik jeweils nur die Hauptproblemsubstanz erheben.

Das Thema Cannabis sorgte zuletzt ebenfalls für Aufmerksamkeit. In Deutschland wurde die Droge seit dem 1. April weitgehend legalisiert. Das Dealen bleibt zwar verboten, Besitz und Anbau sind unter bestimmten Vorgaben aber erlaubt. Eine gute Lösung?

Die Mengen, die mitgeführt werden dürfen, sind relativ hoch. Ob mit allem, was in Deutschland jetzt möglich ist, wirklich eine Verbesserung der Situation erzielt werden kann, ist noch offen. Ob dieses Modell praktikabel ist, wird sich in der Umsetzung zeigen.

Auch das Kiffen in der Öffentlichkeit ist dort neuerdings bis auf einige Ausnahmen erlaubt. Der Aargau grenzt direkt an Deutschland. Könnte nun eine Art Kiffertourismus entstehen?

Das wird man sehen. Wo es ein Angebot gibt, gibt es auch eine Nachfrage. Und es wird sicher Schweizer geben, die das nutzen werden. Es wäre erstaunlich, wenn dies nicht so wäre.

Begrüssen Sie eine Liberalisierung der Cannabis-Gesetzgebung in der Schweiz?

So wie es in der Schweiz derzeit geregelt ist, läuft es nicht wahnsinnig gut. Aus unserer Sicht ist eine gewisse Öffnung prüfenswert. Man müsste aber klare Strukturen und einen regulierten Markt schaffen, damit der Schwarzmarkt so klein wie möglich gehalten werden kann. Ohne gute Preis- und Produktsteuerung wird es nicht funktionieren. Auch beim Jugendschutz muss klar sein, wie man ihn umsetzt, und die dafür erforderlichen Ressourcen müssen vorhanden sein.

In mehreren Schweizer Städten laufen derzeit Pilotversuche, wo man Erkenntnisse für eine mögliche Legalisierung hierzulande gewinnen will. Plant die Suchthilfe Aargau auch einen eigenen Versuch?

Nein, wir haben nichts geplant.

Gemäss dem Jahresbericht ist Cannabis die zweithäufigste Suchtform bei der Suchtberatung. Knapp 20 Prozent aller Klienten (478 Fälle) sind deswegen bei Ihnen. Könnte diese Zahl mit einer Legalisierung verringert werden?

Das wäre natürlich die Hoffnung. Aber wie bereits gesagt, bräuchte es dafür sehr fein austarierte Massnahmen auch bis hin zu den Bereichen Preis und Produkt. Man weiss ja zum Beispiel, dass langfristig zu hohe Dosierungen auch Psychosen auslösen können. Ziel einer Legalisierung muss nicht zuletzt sein, gesundheitliche Probleme zu minimieren oder zu verhindern.

Zum Schluss: Sie sind mittlerweile seit 23 Jahren Geschäftsführer der Suchthilfe Aargau. Was waren die grössten Herausforderungen und Erfolge in dieser Zeit?

Die Herausforderungen als Geschäftsführer einer Suchthilfeorganisation sind vielfältig. Kein Tag ist wie der andere. Dies erfordert Beweglichkeit, Offenheit und Anpassungsfähigkeit. Das bereitet Spass und kann gleichzeitig auch zur Belastung werden. Es geht um Menschen, die zum Teil am Rand der Gesellschaft leben. Es geht auch immer wieder um Leben und um Tod. Als Suchthilfeorganisation müssen wir mit den gesellschaftlichen Entwicklungen mitgehen, um eine Wirkung erzielen zu können. Diese Agilität erfordert Zeit, Kompetenz und Erfahrung. Diese Güter sind 2024 Mangelware. Aus dieser Konstellation zusammen mit den Mitarbeitenden zugunsten der Klientinnen und Klienten immer wieder das Bestmögliche zu erreichen versuchen, ist die wohl grösste Herausforderung.

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