Genau 1023 Kandidierende treten für die Aargauer Grossratswahlen im Herbst an. Bertha Hübscher (EVP) ist die Älteste, Jonas Kley (SP) der Jüngste. Im Interview sagen sie, wann man zu alt für die Politik ist, was sie vom Stimmrechtsalter 16 halten und ob sie sich als Vorbild für Gleichaltrige sehen.
2. September 2024
Bilder: Dlovan Shaheri
Über 1000 Kandidatinnen und Kandidaten möchten im Aargau am 20. Oktober in den Grossen Rat gewählt werden. Zwei stechen besonders hervor: Jonas Kley (SP, Bezirk Lenzburg) wird am Wahltag 18 Jahre alt und ist damit der jüngstmögliche Kandidat im Feld. Auf der anderen Seite steht die 77-jährige Bertha Hübscher, die für die EVP im Bezirk Bremgarten antritt. Den Lehrling und die Rentnerin trennen sechzig Jahre Lebenserfahrung – und doch wollen sie ab 2025 das gleiche Amt ausführen. Warum trauen sie sich das zu? Die AZ hat die beiden zum Gespräch über Alter in der Politik getroffen.
Man sagt, mit dem Alter kommt die Weisheit. Sie könnten also bald die weiseste Grossrätin im Aargau werden, Frau Hübscher. Kein schlechter Titel oder?
Bertha Hübscher: (lacht) Nein, es gibt viele Leute, die jünger und weiser sind als ich. Aber dass Erfahrung grundsätzlich weiser macht, das stimmt sicher. Das sehe ich auch so.
Dann hätten Sie, Herr Kley, ja einen gewaltigen Nachteil.
Jonas Kley: Natürlich kann man Erfahrungen sammeln, die einen später weiser machen. Aber es gibt auch Dinge, die man sich in jungem Alter aneignen kann und dann genauso gut kann wie ältere Leute. Mit dem Alter kommt vielleicht mehr Wissen hinzu, aber ich weiss nicht, ob man das immer als Weisheit bezeichnen kann.
Sie sind mit 77 Jahren die älteste Kandidatin. Derzeit ist Bernhard Scholl (FDP) mit 72 Jahren der älteste aktive Grossrat. Er stellt sich nicht mehr zur Verfügung. Warum treten Sie an?
Hübscher: Ich bin schon lange aktives Mitglied der EVP und ich möchte mit meiner Kandidatur vor allem die sechs bisherigen EVP-Grossratsmitglieder unterstützen, die alle wieder zur Wahl antreten.
Zuletzt war das Alter der amerikanischen Präsidentschaftskandidaten ein heiss diskutiertes Thema. Der 81-jährige Joe Biden tritt nun nicht mehr zur Wiederwahl an. Auch dem 78-jährigen Donald Trump wird vorgeworfen, er sei zu alt für den Job. Was macht diese Diskussion mit Ihnen?
Hübscher: Bei Joe Biden war es offensichtlich, dass er zu alt ist. Ich finde es gut, dass er nicht mehr antritt. Aber es kommt natürlich auf das Amt an. Ob man in der Regierung oder im Parlament ist, macht schon einen Unterschied. Im Parlament hat man zum Beispiel die Fraktion, die einen unterstützt.
Kley: Ich bin der Auffassung, dass es nicht nur eine Frage des Alters ist. Man hört oft, das Alter sei nur eine Zahl und ich stimme dem zu. Die Frage ist eher, ob man geistig noch dazu in der Lage ist, ein solches Amt auszuführen. Es gibt viele Leute, die das schon vorher nicht mehr sind.
Gibt es also kein Alter, in dem man zu alt für ein politisches Amt ist? Oder wären Sie für eine gesetzliche Altersobergrenze?
Kley: Grundsätzlich nicht. Es kommt nur darauf an, ob man noch fähig ist, das Amt auszuführen. Das Stimmrecht erhält man in der Schweiz bis an sein Lebensende und solange darf man auch gewählt werden. Ich bin dafür, dass alle mitmischen dürfen, Jung und Alt.
Hübscher: Ich bin auch gegen eine Obergrenze. Ich kenne Leute, die mit 70 nicht mehr fähig dazu wären, und andere, die mit 90 noch sehr fit sind. Man sollte selbst merken, wann man zu alt ist und Platz für Jüngere machen sollte. So wie zum Beispiel in Italien, wo der langjährige Staatspräsident Giorgio Napolitano selbst zurückgetreten ist. (Anm. d. Red: Napolitano war im Alter von 80 bis 89 Staatspräsident. Er trat 2015 zurück).

Wurden Sie schon aufgrund ihres Alters diskriminiert?
Hübscher: Nein, mir gegenüber ist das noch nie passiert.
Herr Kley, Sie feiern am Wahltag Ihren 18. Geburtstag und sind der jüngste von allen 1023 Kandidierenden. Warum stehen Sie auf der Liste?
Kley: Auf der einen Seite, weil ich politisch sehr interessiert bin. Andererseits bin ich der Meinung, dass auch die Jugend im Grossen Rat vertreten sein soll. Das Parlament soll das Volk widerspiegeln und da gehören auch die Jungen dazu. Ich kandidiere, um auch jungen Menschen eine Stimme zu geben.
Sie machen derzeit eine KV-Lehre mit Berufsmatur, sind nebenbei Ministrantenleiter, Sänger in einer Kirchenband und in der Jugendorganisation Cevi beschäftigt. Haben Sie noch Zeit für ein Grossratsmandat?
Kley: Wenn ich gewählt werde, müsste ich bei meinen Hobbys sicher Abstriche machen, das ist mir bewusst. Aber mit dem Amt käme ja so etwas wie ein neues Hobby hinzu und solange es mir Spass macht, wäre es kein Problem, auf ein anderes zu verzichten. Auf welches, möchte ich aber nicht verraten.
Im November stimmen wir im Aargau über das Stimmrechtsalter 16 ab. Neu sollen auch 16- und 17-Jährige das aktive Stimm- und Wahlrecht erhalten. Selbst in ein Amt gewählt werden können sie aber weiterhin erst mit 18. Werden Sie diese Initiative annehmen?
Hübscher: Ich habe mich noch nicht eingehend mit der Abstimmung befasst, aber es gibt viele 16-Jährige, die dafür reif genug sind. Ich gehe davon aus, dass nur diejenigen vom Stimmrecht Gebrauch machen würden, die auch wirklich Interesse daran haben. Zudem würde es die Wahlresultate etwas verändern, was sicher nicht schlecht wäre. Heute gehen ja vor allem die Älteren abstimmen und wenn sie das tun, ist es meist in ihrem eigenen Interesse.
Kley: Ich bin auf jeden Fall für die Initiative. Es geht schliesslich um unsere Zukunft. Wir lernen schon in der Schule, wie das politische System im Aargau und in der Schweiz funktioniert. Sobald man weiss, wie man sich eine Meinung bildet und sich richtig informieren kann, ist man reif dafür, zu sagen: «Das will ich für meine Zukunft und das nicht.» Das kann man auch schon mit 16.
Was sagen Sie zu dem oft gehörten Gegenargument: «Wer keine Steuern zahlen muss, soll auch nicht abstimmen können»?
Kley: Das macht wenig Sinn. Wenn man konsequent wäre, müsste man dann auch sagen, dass 18- bis 25-Jährige in Ausbildung kein Stimmrecht haben dürfen, wenn sie noch keine Steuern zahlen.

Wie haben Familie und Freunde reagiert, als Sie Ihre Kandidatur verkündet haben? Gab es negative Reaktionen?
Hübscher: Die kennen das ja bereits von mir, ich habe schon oft für Grossratswahlen kandidiert (lacht). Negative Reaktionen oder dass mich jemand gefragt hätte, ob das jetzt sein muss, gab es bisher noch nie. Wenn überhaupt, werde ich wegen der Wahlplakate darauf angesprochen, und dann ist es ausschliesslich positiv.
Kley: Meine Familie fand das super, ich habe einige Komplimente erhalten. Auch die politisch interessierten Freunde finden das eine gute Sache. Negative Reaktionen oder dass ich ausgelacht worden wäre, habe ich nicht erlebt. Schliesslich braucht es ein grosses Stück Mut, seine eigenen Plakate aufzuhängen und sich so zu exponieren.
Welche Erfahrungen bringen Sie aufgrund Ihres Alters in die Politik ein?
Hübscher: Ich war neun Jahre im Wohler Einwohnerrat und kenne bereits gewisse politische Abläufe. Aufgrund meiner Lebenserfahrung möchte ich mich besonders für eine menschenwürdige Sozial- und Gesundheitspolitik einsetzen.
Kley: Ich bringe sicher eine jugendliche, neue Sicht auf gewisse Themen. Weil gewisse Politikerinnen und Politiker schon jahrzehntelang dabei sind, gibt es Themen, wo Meinungen etwas festgefahren sind. Da möchte ich frischen Wind und neue Lösungsansätze reinbringen.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Kley: Ich rede insbesondere vom Klimaschutz, bei dem viele Diskussionen zu lange aufgeschoben wurden.
Könnte Ihr Alter auch Nachteile für die Arbeit im Grossen Rat haben?
Kley: Es ist ein Amt, bei dem ich schon ab meinem 18. Geburtstag im Rampenlicht stehe. Es gibt Lebenserfahrungen, die mir dann noch fehlen. Aber ich denke nicht, dass das eine Kandidatur unmöglich macht.
Hübscher: Bei digitalen Themen bin ich vielleicht etwas langsamer als die Jungen.

Sehen Sie sich als Vorbild für Gleichaltrige, um ebenfalls eine Kandidatur zu wagen?
Hübscher: Das habe ich mir noch gar nie überlegt. Ich betrachte mich nicht als Vorbild. Aber ich erlebe, dass es geschätzt wird, wenn man sich engagiert. Selbst wenn die Wahlchancen nicht sehr hoch sind.
Kley: Diesen Gedanken habe ich mir auch noch nie gemacht. Ich sehe mich ebenfalls nicht als Vorbild, auch wenn es natürlich cool ist, wenn andere das sehen und überlegen, ebenfalls in die Politik zu gehen.
Bei den letzten Grossratswahlen 2020 war Yannick Berner (FDP) mit 28 Jahren der jüngste gewählte Grossrat. Finden junge Menschen zu wenig Gehör in der Aargauer Politik?
Kley: Wenn das jüngste Grossratsmitglied damals 28 war, sieht man, dass heute praktisch eine ganze Generation im Parlament fehlt. Wie schon gesagt, soll das Parlament die ganze Gesellschaft repräsentieren. Da gibt es anscheinend eine grosse Lücke, was die unter 30-Jährigen betrifft.
Hübscher: Auch Menschen unter 30 haben schon eine Lehre gemacht oder ein Studium abgeschlossen. Sie sollten mehr mitbestimmen dürfen. Der Altersschnitt im Kantonsparlament sollte sicher gesenkt und nicht angehoben werden.

Sehen Sie Ihre Kandidatur dann nicht als Widerspruch?
Hübscher: (lacht) Ich war schon froh, dass wir auf meiner Liste überhaupt drei Namen aufschreiben konnten. Ich nehme also niemandem den Platz weg. Aber ich verstehe Ihre Frage, auf anderen Listen wäre das vielleicht ein Problem gewesen. (Anm. d. Red: Auf der Liste EVP Bezirk Bremgarten stehen drei Personen. Möglich wären 16).
Sie haben Jahrgang 1947 und 2006, dazwischen liegen rund 60 Jahre. Welches Ereignis hat Sie politisiert?
Hübscher: Das war bei mir kein einzelnes Ereignis. Damals in der Sek hatten wir am Samstagmorgen noch zwei Stunden Schule. Unsere Lehrerin machte uns dort «glustig» für Politik, indem wir aktuelle Themen aus der Schweiz und aus der Welt besprachen. Das hat mich gepackt. So habe ich auch angefangen, Nachrichten zu hören oder die Zeitung zu lesen.
Kley: Bei mir war es ganz klar die Klimathematik. Als ich in der 6. Klasse war, war es das grosse Thema in der Schule und zu Hause. Das fand ich spannend und habe mich eingelesen. So bin ich in die Politik gerutscht.
Waren Sie schon an einer Klimademo?
Kley: Ja, schon mehrfach.
Hübscher: Nein, aber das liegt eher am Alter. Das Thema muss man auf jeden Fall ernst nehmen.
Soll man sich fürs Klima auf die Strasse kleben?
Hübscher: Nein. Es gibt andere Möglichkeiten, um darauf aufmerksam zu machen.
Kley: Die Aufmerksamkeit kriegt man so sicher. Die Frage ist, was es bringt, wenn man die Leute im Alltag wütend macht. Ich verstehe, wieso die Klimakleber dieses Vorgehen wählen, aber selbst würde ich es nicht machen.
Die Chancen, dass Sie beide gewählt werden, sind realistisch gesehen nicht sehr gross. Trotzdem: Welchen Rat würden Sie einem Grossrat Jonas Kley mit auf den Weg geben?
Hübscher: Ganz entspannt zuschauen und zuhören, wie alles abläuft. Dann kommt das von alleine.
Und was würden Sie der Grossrätin Bertha Hübscher raten?
Kley: Den Jungen zuhören und offen für ihre Positionen sein. Speziell auch solchen, die aufgrund ihres Alters oder ihres Bürgerrechts nicht selbst abstimmen dürfen.
