Wie eine junge Aargauerin mit ihrem Bussard aus einem fahrenden Auto heraus Krähen jagt

Zusammen mit ihrem «Aki» geht Annika Bütschi im Winter regelmässig auf die sogenannte Beizjagd. Wenn die Falknerin den Greifvogel aus dem Auto lässt, dauert es nur wenige Sekunden, bis er sich ein Opfer schnappt. Wir haben die Schinznacherin bei ihrem aussergewöhnlichen Hobby begleitet.

4. Januar 2024

Bilder: Sandra Ardizzone

Drei Sekunden. Es sind drei Sekunden, die Aki braucht, um die Krähe zu erreichen. Drei Sekunden, in denen Annika Bütschi den Atem anhält. Drei Sekunden, in denen sich zeigt, ob das Training mit dem Greifvogel nicht umsonst war.

Drei Sekunden, die zwischen Leben und Tod entscheiden.

Wenn Falknerin Annika Bütschi ihren Greifvogel aus dem Auto lässt, geht alles ganz schnell: Aki stösst sich kraftvoll von Bütschis Handschuh ab. Etwa 30 Meter brach liegendes Feld trennen ihn von seinem Ziel. In einer schnurgeraden Linie sticht er auf die Beute zu. Die Krähe sieht den Jäger kommen. Aber erst, als es zu spät ist. Es gelingt ihr noch, sich vom Boden abzustossen und ein paar Meter hochzufliegen.

Aki zischt heran, dreht sich kopfüber und packt die Krähe von unten mit seinen Krallen. Schwarze Federn fliegen davon. Dann stürzen die Rabenkrähe und der Rotschwanzbussard auf den Boden. Die Beute zappelt in Akis Fängen.

In dem Augenblick, als die Falknerin sieht, dass ihr Jagdpartner die Krähe gepackt hat, legt ihr Vater, der am Steuer sitzt, eine Vollbremsung hin. Von 60 Stundenkilometern auf null. Bütschi reisst die Beifahrertür auf und sprintet auf den Vogelknäuel zu. Mit einem gezielten Messerstich durch Herz und Lunge will sie die Krähe so schnell wie möglich erlösen. Der Bussard, ein Grifftöter, würde das Tier sonst langsam mit seinen Krallen erdolchen.

Aus Leidenschaft wurde Lebensstil

Was sich an diesem kalten Wintermorgen auf einem Acker in Veltheim abspielt, ist eine Sache von wenigen Sekunden. Dass dieses kurze Spektakel – dieses Zusammenspiel von Beizjägerin und Beizvogel – überhaupt möglich ist, dafür war intensives Training nötig. Viel Geschick und noch mehr Geduld. Und das Wichtigste: Annika Bütschis Leidenschaft für Greifvögel.

Als 12-jähriges Mädchen begann Bütschi, sich für Greifvögel zu interessieren. Eine Lehrerin habe von ihrer Faszination gewusst und zeigte ihr einen Flyer für eine Greifvogel-Flugshow in Deutschland. Ihre Familie sei dann auf ihr Drängen mit ihr dorthin gefahren. Und Bütschi war begeistert, wie ein Bild aus dem Familienalbum zeigt.

Annika Bütschi beim Besuch im Vogelpark 2003. Bild: zvg

«Seit diesem Zeitpunkt wollte ich immer einen Greifvogel haben.»

Die Schinznacherin hat seither alles dafür getan, um aus dem Wunsch Wirklichkeit zu machen. Wer in der Schweiz einen Greifvogel halten will, braucht die entsprechende Ausbildung sowie eine Bewilligung gemäss Tierschutzgesetz. Will man den Vogel zudem frei fliegen lassen oder für die Jagd einsetzen, benötigt man sowohl die Erlaubnis der örtlichen Jagdgesellschaft, als auch eine Jagd- und eine Falknerprüfung. Letztere hat Bütschi 2017 geschafft.

Falknerei ist für Annika Bütschi kein Hobby, sondern ein Lebensstil. «Ich richte mein ganzes Leben danach aus», sagt die 32-Jährige. Beruflich und privat. «Wer die Falknerei ernst nimmt, benötigt dafür viel Zeit. Sehr viel sogar.»

Kurzfristig für ein paar Tage ins Ausland verreisen? Nicht möglich. Am Abend spontan mit Freunden in die Bar oder ins Kino? Zu müde, wenn man schon drei Stunden auf der Jagd war und danach acht Stunden gearbeitet hat.

Bis vor wenigen Jahren war Bütschi noch als Fotografin tätig. Für ihren Traum hat sie den Job gewechselt. Heute arbeitet sie für einen bekannten Onlinehändler. Viel Homeoffice, flexible Arbeitszeiten. Immer nah bei ihrem Aki.

Das Lächeln für Aki

Für Annika Bütschi ist der Beizvogel kein blosses Werkzeug, das man nach der Jagd im Waffenschrank versorgt. «Aki ist ein Teil der Familie», sagt sie.

Was sie damit meint, ist an ihren Mundwinkeln zu erkennen.

Man sieht es, wenn sie Aki am Morgen vor der Jagd aus seiner Flugdrahtanlage holt. Wenn sie mit ihm spricht. Wenn sie den Peilsender, den sie ihm jeweils anhängt, mit dem Handy verbindet. Wenn sie ihn wiegt, um zu wissen, ob er sein «optimales Kampfgewicht» von 900 Gramm hat.

Und natürlich, wenn es endlich losgeht. Immer ist da dieses Lächeln.

Die Jagd aus dem fahrenden Auto

Drei- bis viermal pro Woche spielt sich diese Jagdvorbereitung derzeit ab. Im Frühling und Sommer galt für die Krähen die Schonzeit. Doch die ist abgelaufen. Zwischen Oktober und Februar schreitet Bütschi mit Aki zur Jagd.

Nachdem alle Vorbereitungen abgeschlossen sind, steigt die Falknerin mit dem Beizvogel auf dem Arm ins Auto. An seine Beine sind zwei Lederriemen – das «Geschüh» – geschnallt. Bütschi klemmt sich die Riemen zwischen die Finger, um das Tier zu sichern.

Am Steuer nimmt wie immer Vater Erich Platz. Bevor er losfährt, legt er sich ein grosses Handtuch auf die Beine und spannt es bis zu seiner Tochter. «Aki ist eben nicht stubenrein», kommentiert er und grinst.

Vater und Tochter sind ein eingespieltes Team. Während er den Blick immer auf die Strasse richtet, sucht die Beizjägerin die vorbeiziehenden Felder, Bäume und Hügel ab.

Aki tut es ihr gleich. Scannt die Landschaft. Blitzschnell. Roboterhaft. Wie der Terminator.

Im Gegensatz zu der von Arnold Schwarzenegger verkörperten Filmfigur ist Aki aber keine Maschine. Sein Erfolg ist nicht programmierbar. Ob Aki einen Jagdversuch starten will, entscheidet er selbst. Dann gelten die Gesetze der Natur.

«Wenn er losfliegt, ist er auf sich allein gestellt. Dann haben Beute und Jäger dieselbe Chance. Fifty-fifty.»

Bütschi macht einen Vergleich: «Seine Kondition und seine Motivation sind wie bei einem Spitzensportler. Aki kann seine Leistung nur erbringen, wenn er gesund und fit ist.» Sie sei seine Trainerin, die dafür sorge, dass er möglichst gute Jagdbedingungen bekomme.

Das erklärt auch, weshalb die Beizjagd aus einem fahrenden Auto heraus stattfindet: Krähen sind an vorbeifahrende Autos gewohnt und rechnen nicht damit, dass von ihnen Gefahr ausgeht. Am besten sind die Chancen für Aki deshalb auf regelmässig befahrenen Strassen, wo ein einzelnes Auto kein Misstrauen erweckt.

Dennoch sind die schwarzen Vögel bekanntlich äusserst kluge und lernfähige Tiere. Früher waren Bütschi und ihr Vater in einem auffälligen Geländewagen unterwegs. Aber die Krähen erkannten ihr Fahrzeug bald schon von weitem und flogen davon. «Jetzt haben wir ein Auto, das aussieht wie jedes dritte. Das erhöht unsere Chancen.»

Überraschungsmoment verpasst

Tatsächlich hat Aki an diesem Tag seine erste Chance genutzt und in Veltheim die anfangs beschriebene Rabenkrähe erlegt. Noch bevor der Bussard sich an ihr sattfressen kann, tauscht die Falknerin die Krähe mit einem leblosen Küken aus, das sie bis jetzt in ihrer Weste versteckt hielt. Die tote Krähe verschwindet hinter ihrem Rücken – ausserhalb von Akis Sichtfeld.

«So hat er eine Belohnung für den Erfolg, aber bleibt noch motiviert für einen weiteren Jagdflug.»

Der oder die Besitzerin des Feldes dürfte derweil kaum etwas gegen die Krähenjagd haben. Denn zu viele Krähen schaden der Landwirtschaft. Sie haben es insbesondere auf Mais-Aussaaten, aber auch auf andere Getreide- oder Gemüsekulturen abgesehen und dürfen daher bejagt werden. Gemäss der kantonalen Jagdstatistik wurden im Aargau 2022 weit über 1000 Rabenkrähen abgeschossen.

Nur ein paar Minuten nach Akis Jagderfolg sitzen Vater, Tochter und Greifvogel wieder im Auto. Weiter geht’s auf verschiedenen Landstrassen, durch das Schinznacherfeld und über die Staffelegg. Immer wieder bieten sich gute Gelegenheiten, oft stehen Krähen alleine auf einem Feld neben der Strasse.

Fenster auf. Aki zischt los. Drei Sekunden. Und dann?

Nichts. Entwischt.

Wenn der Bussard nicht beim ersten Überraschungsangriff erfolgreich ist, sinkt seine Chance gegen null. Dann sind die Krähen schneller als der Greifvogel.

Das weiss auch Aki. Auf Bütschis Zeichen hin fliegt er ohne zu zögern wieder zurück zum Auto, wo sie ihn in Empfang nimmt.

Kein Leben in Gefangenschaft

Unterwegs erzählt Annika Bütschi von der Greifvogelhaltung. Sie möchte auf keinen Fall einen falschen Eindruck erwecken.

«Aki ist ein Wildtier mit einem intakten Jagdinstinkt. Wenn er gehen wollen würde, könnte er das bei jedem Freiflug tun. Er könnte draussen alleine überleben.»

Der Bussard ist heute zweieinhalb Jahre alt. Im August 2021 hat sie ihn bei einem Züchter gekauft. Durch das Training und die Routine hat sich mittlerweile eine Vertrauensbeziehung entwickelt. Aki weiss, dass er bei Bütschi einen sicheren Platz hat und täglich sein Futter bekommt. Und: «Ein Greifvogel fliegt nie zum Spass, sondern nur, wenn er muss.» Also wenn er jagt oder sein Revier verteidigt.

Auch in der Natur würde ein Greifvogel dafür nur wenige Minuten pro Tag aufwenden. Ansonsten gilt es Energie zu sparen. Daher könne auch keine Rede von einem Leben in Gefangenschaft sein.

Nach zwei Stunden Autofahrt blinkt die Tankanzeige im Armaturenbrett auf. Zeit für einen Zwischenstopp. Und Zeit für die Frage: Was kostet das alles? Schliesslich ist sie ja pro Woche mehrere Stunden mit dem Auto auf der Jagd. Da muss öfter mal nachgetankt werden. Hinzu kommen die tägliche Nahrung (neben Krähen und Küken auch Tauben, Wachteln oder Ratten) und Tierarztrechnungen. Beides sei laut Bütschi aber wesentlich günstiger als bei Hunden oder Katzen.

«Ich habe nie durchgerechnet, was das alles kostet», gibt sie zu. Aus Selbstschutz? «Ja, vielleicht.»

Krähenbrust zum Zmittag

Unterdessen ist das Auto vollgetankt. Dafür leeren sich nun die Batterien des Greifvogels. Bütschi registriert bei ihm erste Anzeichen von Müdigkeit.

Aber Aki hat noch nicht aufgegeben. Erneut scannt der Jäger die Landschaft. Und tatsächlich. Auf einem Feld in Auenstein sieht er es – sein nächstes Opfer.

Drei Sekunden.

Wieder fliegen die Federn, wieder stürzen Beute und Jäger zu Boden, wieder einmal war Aki schneller.

Jetzt darf er sich über die Krähe hermachen. Bütschi beobachtet, wie er seinem Zmittag die Federn ausrupft, um an das muskulöse Brustfleisch zu gelangen.

Mit leeren, offenen Handflächen nähert sie sich ihm. Er soll wissen, dass sie ihm nichts wegnehmen will. Sie möchte bloss die Krähe so fixieren, dass er nicht versehentlich die Innereien frisst und dadurch Parasiten aufliest. Er lässt es zu.

«Das war die Nummer 29 in dieser Saison», sagt Bütschi stolz.

Zu Hause bringt die Falknerin den Greifvogel wieder in sein Gehege. Sofort setzt er sich in die Schutzhütte und reibt seinen Schnabel an einem Holzbalken. So streift er die letzten Reste seiner Beute ab. Rechnet man Krähen und Küken zusammen, hat der Bussard heute rund 200 Gramm Fleisch gefressen. Mehr als ein Fünftel seines eigenen Körpergewichts.

In zwei Tagen wird Aki aber schon wieder sein optimales Kampfgewicht erreicht haben. Dann ist er bereit für die nächste Jagd.

Bereit für die nächsten drei Sekunden.